English

Polyvox



Elena Tikhonova
Synthesizer für die Massen

Anfang der 1980er Jahre, am Höhepunkt des sowjetischen Wirtschaftsdefizits, erhielten jene Betriebe, die für die Rüstungsindustrie arbeiteten, die Weisung, neben Kriegsgerät auch Güter für die zivile Nutzung, „für das Volk“ herzustellen: Teekocher, Eimer und Töpfe, aber auch elektronische Geräte wie Radioempfänger und Kassettenrekorder wurden neben Patronen, Raketenköpfen und Radargeräten produziert.

Eine dieser Produktionsstätten war die Firma Vektor in Sverdlovsk, dem heutigen Jekaterinburg. Sie war spezialisiert auf Radiotechnik und elektronische Instrumente für Kampfflugzeuge und dergleichen. Der junge Ingenieur Vladimir Kuzmin, ein Mitarbeiter und leidenschaftlicher Hobbymusiker, überzeugte damals die Betriebsleitung, dass es unter den Musikern in der Sowjetunion großes Interesse an elektronischen Musikinstrumenten gäbe und bei Vektor die technischen und personellen Vorraussetzungen für deren Herstellung vorhanden wären. So begann er 1980 mit der Entwicklung des Polyvox, eines zweistimmigen analogen Synthesizers, wobei ihm der amerikanische Minimoog als Vorlage und Inspiration diente. Kuzmins Stolz und Erfindergeist waren jedoch stark genug, das Original nicht einfach zu kopieren, sondern er versuchte, eigene, neue und teils sehr ungewöhnliche Lösungen für Filter und Schaltkreise zu finden. Das Ergebnis war ein rauer, satter und druckvoller Klang. Polyvox: ribbed sideVorlage hin oder her: Das allzu westlich und kapitalistisch anmutende Wort „Synthesizer“ wurde schließlich durch die Bezeichnung „Musikinstrument mit erweiterten Möglichkeiten“ ersetzt. Für das Design des Polyvox war Kuzmins Frau Olimpiada verantwortlich. Das robuste, kantige Äußere erinnert an militärische Geräte, die gerippten Seitenteile sind in Anlehnung an die Gleisketten eines Panzers gestaltet.

Die serielle Produktion wurde von 1982 bis 1990 vom Tochterunternehmen Formanta durchgeführt. In diesem Zeitraum wurden jährlich bis zu 25.000 Geräte hergestellt. Trotzdem konnte offiziell nicht jedermann solch ein Gerät erwerben, denn sie wurden direkt an kulturelle Einrichtungen, Musikklubs und Filmstudios verteilt. Jede größere Fabrik besaß kulturelle Klubs zur Rekreation und Freizeitgestaltung seiner Arbeiterschaft. So hatte man z. B. im „Kulturzentrum der Bergarbeiter“ oder im „Klub der Vladimir Kuzmin and the inner of the PolyvoxKolchosebauern“ die Möglichkeit, seinen musischen Talenten nachzugehen – unter der Obhut staatlicher Strukturen. Problematisch bei sowjetischen elektronischen Musikinstrumenten war, dass bei der Herstellung oft nur jene Bauteile zur Verwendung kamen, die die Qualitätskontrolle in sensibleren Bereichen (etwa der Kriegs- oder Luftfahrtechnik) nicht bestanden: also minderwertige Elemente und Ausschussware. So waren diese Geräte von Anfang an fehlerhaft und unberechenbar – keines glich dem anderen.

Dementsprechend scharf fiel die Kritik der professionellen Musiker aus. Doch nur die größten Stars hatten damals die nötigen Mittel und Kontakte, um sich ein Instrument aus dem Westen anzuschaffen. Die übrigen mussten wohl oder übel auf den heimischen Geräten spielen, soweit dies überhaupt möglich war. Die schwerfällige Bedienung und Unzuverlässigkeit machten den Versuch ernsthaften Musizierens wohl zu einem frustrierenden Erlebnis, wobei es nahezu unmöglich war, einen bereits gefundenen und für gut befundenen Klang ein weiteres Mal zu reproduzieren.

Die Zeit nahm ihren Lauf, die Sowjetunion wurde Geschichte – die elektronischen Instrumente landeten in staubigen Ecken, feuchten Kellern oder im Müll. Erst im Laufe der 1990er Jahre stießen wieder viele Musiker und Bands auf die wundersamen Geräte, deren geheimnisvolles und unberechenbares Blubbern, Kratzen, Quietschen und Kreischen einer neuen Generation von Soundkonstrukteuren gerade recht kam.

 
Index