English

Webster Wire Recorder



Wolfgang Ernst
Für Peter Geble

Drahtseilakte

Webster wire recorder M80: open casing. 1948Zwei Klangvergangenheiten: die eine davon längst verklungen, die andere noch gegenwärtig. Als der Altphilologe Milman Parry von der Harvard University Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts im früheren Südjugoslawien die schriftlosen Mnemotechniken epischer Sänger (der Guslari) als lebendige Analogie zu Homers antiken Gesängen untersuchte, bildeten Aufnahmen auf Tonträgern die eigentliche Grundlage seiner daraus resultierenden These, dass die stundenlangen mündlichen Erzählungen aus einem Vorrat feststehender Formeln je aktual re-generiert werden.1 „Selbst Homers rosenfingrige Eos verwandelt sich dann aus einer Göttin in ein Stück Chromdioxid, das im Gedächtnis der Rhapsoden gespeichert umlief und mit anderen Versatzstücken zu ganzen Epen kombinierbar war.“2

Parrys Assistent Albert Lord kehrte um 1950 noch einmal an den Schauplatz zurück, um die ersten Aufnahmen zum Teil mit den selben Sängern noch einmal zu wiederholen. Doch seine Technologie ist eine neue: die magnetophone Aufnahme auf Stahldraht. Ein solcher Wire Recorder ist kein Phonograph, der – wie der Name schon sagt – immer noch in der Tradition (kultur-)technischer Schriften steht, sondern er überführt das sonische Gedächtnis in einen anderen Aggregatzustand. Der Prozess elektromagnetischer Tonaufzeichnung und -wiedergabe aber ist keine Fortsetzung der Kulturtechnik Schrift in neuem Gewand3, sondern ein grundsätzlich anderes, genuin medientechnisches, aus dem Wesen der Elektrizität selbst geborenes Ereignis.

Im September 2006 fiel mir in Berlin unversehens ein solches Gerät in die Hand: der technodinosaurierhafte Wire Recorder der Firma Webster Chicago, Baujahr 1948. Mir kam unverzüglich die Erinnerung an Lords recording in den medienarchäologischen Sinn. Eher intuitiv denn überlegt sah ich mich schon tags darauf, den Wire Recorder im Gepäck, mit dem Automobil auf dem Weg ins serbische Novi Pazar, einem der von Parry und Lord frequentierten Gesangsorte, um der dortigen Kultur ihre Erinnerung aus dem drahtdünnen Klangarchiv auf dem gleichen Gerät wieder vorzuspielen: re-play. Die lokale Radio- und Fernsehstation in Novi Pazar telephonierte, bis sie in den entlegenen Bergen einen der letzten dort lebenden Guslari für mich aufgespürte. Am Ende der Dorfstraße trafen wir den Sänger beim Holzhacken vor seinem Haus – wie in einer von Homer beschriebenen Szene.

Als mir der Sänger Hamdo zur Gusle (seiner Kniegeige) in das Mikrophon des Wire Recorder singt und dabei direkt in meine Augen schaut, stellt sich mir unversehens ein doppeltes Erstaunen ein. Einerseits der Sänger: Obgleich in diesem Moment eine symbolische Konfiguration, eine Kopplung aus Körper, Epos und Instrument, erlebe ich hier keine Klangmaschine, sondern die Kraft des Menschen im Zustand der Poesie; eine Kultur, die sich in diesem Moment über alle symbolischen und technischen Mechanismen erhebt und – obgleich selbst Funktion derselben – darüber hinwegschwingt. Andererseits der Eindruck, der aus der geradezu surrealistischen Nähe von Gusle und Wire Recorder zu einem Gedankenbild zusammenschießt: die rätselhafte Korrespondenz der gestrichenen Saite mit dem Tondraht.

Das Menschlichste entäußert sich gerade im Spiel mit dem Instrument, und der Wire Recorder erfasst genau dieses Momentum: Der Resonanzkreis von Schwingungsvorgängen in Technik und Poesie schließt sich. So ist das Menschlichste zugleich das Unmenschlichste – ausgerechnet das kälteste medienarchäologische Gehör vernimmt die zauberhafteste aller Klangmaschinen.

Fußnoten:


1 Siehe Albert B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge/Mass., London 20012; dort beigefügt eine CD mit Tonbeispielen.

2 Friedrich Kittler, Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986, S. 15.

3 Siehe Wolfgang Ernst, Homer gramm(at)ophon, in: ders., Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie, München 2006.

 
Index