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Neo-Bechstein-Flügel



Peter Donhauser
Der elektrische Beethoven

Neo-Bechstein grand„Der elektrische Beethoven“, „Das Wunderklavier“, „Der Universalflügel“, „Das Kollektivklavier“, „Ein technisch-musikalisches Wunderwerk“, „Das Musikinstrument der Zukunft“, „Der zeitgemäße Flügel“, „Sphärenmusik“, „Revolution im Klavierbau“ – diese und andere fantasievolle Bezeichnungen ließ sich die Presse anlässlich der Präsentation eines neuen, elektromechanischen Klaviers einfallen, dem seine Herstellerfirma den Namen Neo-Bechstein gab. Der Protagonist des Instruments war Geheimrat Walther Nernst, Nobelpreisträger und seit 1924 Leiter des Physikalisch-Chemischen Instituts der Universität Berlin, wo das Klavier entstand. Da Nernst, der kurz vor seiner Pensionierung war, sich mehr mit der Fischzucht auf seinem Landgut beschäftigte und zudem auf dem Sektor der Röhrentechnik nicht am letzten Stand war, überließ er die Arbeit zum großen Teil seinem Assistenten Hans Driescher, der mit zwei Patenten wesentlich zur Realisierung beitrug.1

Neo-Bechstein grandZahlreiche technische Probleme waren zu lösen, bevor das alteingesessene Berliner Klavierhaus Bechstein die Produktion übernahm. 1931 präsentierte man das Ergebnis der mehrjährigen Versuchsphase, dessen Produktion in einer Kleinserie als Höhepunkt der Versuche anzusehen ist, ein „elektrisches Instrument“ vor dem Zusammenbruch Deutschlands im Zweiten Weltkrieg im nennenswerten Umfang auf den Markt zu bringen, vergleichbar nur mit dem Volkstrautonium von Telefunken. Im Vordergrund standen wohl wirtschaftliche Überlegungen, sich auf ein neues Konstruktionsprinzip einzulassen. Die Klavierindustrie Deutschlands lag Ende der 1920er Jahre darnieder (die Produktionsziffern sanken zwischen 1927 und 1933 um 93 Prozent).2 Die Statistik wies alarmierende Zahlen auf: Ende 1932 waren die Betriebe nur mehr zu acht Prozent ihrer Kapazität ausgelastet.3

Es verwundert daher nicht, dass man sich nach neuen Produkten umsah, um neue Käuferschichten anzusprechen und den Absatz zu beleben. Zudem schien aufgrund der raschen Entwicklung des Rundfunks die Zeit reif für elektrisch erzeugte oder verbreitete „Musik aus dem Lautsprecher“. Zahlreiche öffentliche Auftritte mit neuen Instrumentenkonstruktionen hatten die Öffentlichkeit bereits auf aufmerksam gemacht: „Es wird etwas mit der Elektrischen Musik“, schrieb 1933 die Funkschau.4

Neo-Bechstein grand: electromagnetic pickups. 1932Die Besonderheiten des Instruments lagen vor allem im Detail. Aufgrund der dünnen Saiten waren „normale“ Klavierhämmer zu massiv, der Anschlag zu energiereich – die Folge war ein Knallgeräusch. Abhilfe schaffte eine Entwicklung Drieschers5, die schlussendlich zu den verwendeten „Mikrohämmern“ führte: ein kleiner, massearmer Hammerkopf, beweglich in einem größeren Teil gelagert, der vor dem Anschlagpunkt abgebremst wurde. Den Magnetspulen („Telephonmagneten“) waren Kondensatoren parallelgeschaltet, die den Klangfarbenverlauf über die Klaviatur regelten: dumpf und sonorig im Bass, glockenhell im Diskant. Dies sollte der Klavierliteratur eine neue, besondere Note verleihen.
Bechstein baute ein erste Serie von 79 Instrumenten6, nachfolgend noch weitere Exemplare in größeren Abständen. Insgesamt sollen es 150 Stück gewesen sein.7 Die meisten Instrumente wurden nach Deutschland verkauft, gefolgt von Holland, USA, Schweiz, Norwegen – eines sogar nach Japan.8 Weitere Flügel wurden in Lizenz bei Petrof in Königgrätz (heute Hradec Králové) hergestellt.9

Ähnlich wie beim Volkstrautonium ging der Verkauf nur schleppend voran. Es wurden zwar die meisten Flügel verkauft, an eine Ausweitung der Produktion war aber nicht zu denken, zumal sich durch den Kriegsbeginn und die völlig veränderte Nachkriegssituation auf dem Instrumentenmarkt keine Absatzmöglichkeiten boten.

Fußnoten:


1 Eine ausführliche Darstellung der Verhältnisse bei Peter Donhauser, Elektrische Klangmaschinen, Wien 2007, S. 79ff.

2 Deutsche Instrumentenbau-Zeitung (DIZ), 25. 3. 1934, S. 72.

3 Die Not der Klavierindustrie, in: DIZ, 25. 6. 1933, S. 175.

4 H. Boucke, Es wird etwas mit der elektrischen Musik, in: Funkschau, Nr. 40, 1. 10. 1933, S. 313.

5 Patent DE 530.257 vom 6. 3. 1930: „Saiteninstrument mit Relaissteuerung, insbesondere Relaisklavier“.

6 Flügelnummern 138.120 bis 138.198.


7 Dieter B. Herrmann, Walther Nernst und sein Neo-Bechstein-Flügel, in: NTM-Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 9, 1972, S. 40ff.

8 Aufzeichnungen bei Bechstein, Berlin.

9 Die Stückzahl war nicht eruierbar, dürfte aber „einige zehn Stück“ nicht überschritten haben (Auskunft von Jan Petrof).

 
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