English

Telharmonium II



Cordula Bösze
Das untemperierte Riesenradio

In dem utopischen Roman Looking Backward (1888) beschreibt Edward Bellamy eine glückliche Menschheit im Jahr 2000, die besonderen Komfort genießt: Musikempfang über Telephondraht in allen Wohnräumen. Bereits 1906 meldet die New York Times die Umsetzung dieser Utopie: „Magic Music from the Telharmonium“ 1 ertönt aus Telephonempfängern in New York City.

Der Erfinder und Jurist Thaddeus Cahill (1867–1934) verfolgt mit der Konstruktion des Dynamophons zwei Ideen: Er möchte, anhand der Erkenntnisse des deutschen Physikers und Physiologen Hermann von Helmholtz über die Klangfarben, ein perfektes Musikinstrument bauen, das unter Verwendung von Elektrizität schlichtweg alle Instrumente übertreffen soll. Und: Musik soll über Telephondraht verbreitet werden.

Telharmonium II: young worker with tone generator unit. 19061897 erlangt Cahill das Patent für das Dynamophon; bei einem Dinner 1902 im Maryland Club in Baltimore lauschen die Investoren verzückt dem Largo von Händel, das, gespielt von Paul W. Fishbaugh, aus Washington in den Ballsaal übertragen wird. Große Geldsummen werden bereitgestellt; der Bau des – gegen den Willen des Erfinders so benannten – Telharmoniums in der Cabot Street Mill in Holyoke kann beginnen. Im Sommer 1906 werden die 200 Tonnen schwere Maschinerie und der Spieltisch auf 30 Eisenbahnwaggons nach New York transportiert und in einem Gebäude am Broadway installiert.

Telharmonium: Telharmonic HallVon Januar bis April 1907 veranstaltet die Telharmonic Hall täglich Konzerte. Prominente Gäste wie Enrico Caruso zeigen sich begeistert von den Klängen aus den im Raum verteilten Empfängern. Man diskutiert über die „Demokratisierung der Musik“, weil sie durch die kostengünstige Übertragung nun nicht mehr länger Privileg der Reichen sei; weiters träumen Hotelmanager von sinkenden Personalkosten durch Einsparung der Tanzkapellen. Zu den ersten Abonnenten für die Musikübertragung zählen das noble Café Martin, die Hotels Imperial und Waldorf-Astoria und – als erster Privatsubskribent – Mark Twain. Täglich werden bis zu vier Konzerte angeboten, die Programmauswahl reicht von Opern- und Symphonieausschnitten über Tanzmusik bis zu Ragtimes, sonntags gibt es sakrale Musik. Zu den Vorführungen in der Halle zählen auch die Besichtigung des Maschinenraums und ein Zusammenspiel des Telharmoniums mit dem Singing Arc.

Mehrere Faktoren trüben rasch den anfänglichen Erfolg des Telharmoniums: Die Musik wird zwar über eigens verlegte Drähte parallel zu den Telephonkabeln übertragen, doch das wesentlich stärkere Musiksignal überlagert oft die Gespräche. Die ohnedies von Beschwerden geplagte New Yorker Telephongesellschaft beendet den Vertrag mit Cahills Electric Music Company. Gleichzeitig hält Cahill die Fortschritte bei der drahtlosen Übertragung für zu unausgereift für seine Zwecke. Und nicht zuletzt weist das perfekte Musikinstrument grobe Mängel auf: Trotz jahrelanger Versuche bleibt die Imitation von Streichinstrumenten auf dem Telharmonium unbefriedigend. Die Einteilung nach den Gesetzen der Naturtonreihe bringt enorme Probleme des Zusammenklangs mit sich, was aber „vorauszuhören“ war – nicht ohne Grund werden Tasteninstrumente temperiert gestimmt! Die Musiker müssen auf der ungewohnten Klaviatur ein anspruchsvolles Programm bewältigen, Übezeiten sind kaum vorgesehen – die Qualität der Konzerte hält nicht, was großspurig angekündigt wird. Von einer Imitation ganzer Orchester bleibt das Telharmonium weit entfernt.

Die zweite Saison der Telharmonic Hall dauert von November 1907 bis Februar 1908. Danach wird in Holyoke an einem dritten, verbesserten Instrument gearbeitet, das 1912 in New York in Betrieb geht, doch finanzielle Probleme und die rasante Entwicklung der Radioübertragung führen 1913 zu einem raschen Ende. Der letzte Komponist, der das Instrument noch zu hören bekommt – diese auf wundersame Weise bei Mark Twain gestrandete Idée fixe mit den Ausmaßen von Mobby Dick –, ist Edgard Varèse, der sich über die Ausdrucksmöglichkeiten des Instruments enttäuscht zeigt.

Fußnoten


1 16. 12. 1906. Vgl. für den ganzen Beitrag Reynold Weidenaar, Magic Music from the Telharmonium, Metuchen (N. J.), London 1995.

 
Index