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Welte-Mignon-Vorsetzer



Peter Donhauser
Notenlöcher und Holzfinger

Die Wiedergabe von Klavierspiel mit Steuerungsmechanismen geht (je nachdem, welchen technischen Standard man berücksichtigt) zumindest auf das 19. Jahrhundert zurück. Die dabei verwendeten Verfahren basierten vorerst auf Datenträgern, die quasi auf dem „Reißbrett“ erzeugt wurden. Das bedeutet, dass die Partitur manuell auf eine Walze, ein Karton- oder einen Papierband übertragen wurde. Für eine Wiedergabe verwertbare Aufnahmen des Spiels eines Pianisten (noch dazu mit zusätzlicher Registrierung der Dynamik des Spiels) waren im 19. Jahrhundert zwar angedacht, aber nicht praktikabel. Einige Zeit hindurch waren daher bestenfalls „arrangierte“ Rollen erhältlich, bei denen Steuerfunktionen per Hand eingestanzt wurden. Eine „Interpretation“ war der Person überlassen, die am Abspielgerät Regler bedienen musste. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen einige Hersteller, Verfahren zur Dynamikaufzeichnung zu entwickeln, um „Künstlerrollen“ (also Einspielungen von Pianisten) zu erzeugen.

Welte-Mignon push-up player: section drawing for the patent, 1904„M. Welte & Söhne“ in Freiburg nahmen ab 1904 solche Rollen mit bekannten Pianisten auf (u. a. auch mit Komponisten) und entwickelten zu dem Zweck ein Gerät, das in den folgenden 15 Jahren laufend verbessert wurde. Der Mechanismus ist bis heute unbekannt. Die Firmenpolitik Weltes verhinderte die Weitergabe der Information, die Angestellten wurden zur Verschwiegenheit verpflichtet. Es wurde daher auch kein Patent für die Dynamikaufzeichnung angemeldet, weil damit die Idee öffentlich bekannt geworden wäre. Verschiedenen Vorschläge für eine Lösung des Rätsels sprechen von Quecksilberkontakten, weichen Tintenrädern usw. 1 Jedenfalls sind Anschlagstärken von Bass und Diskant, Klaviatur-Verschiebung, Dämpferaufhebung, Mezzoforte, Crescendo, Forzando, Motorleistung, Rollenrücklauf etc. in den jeweils zehn außen an der Notenrolle liegenden Spuren verzeichnet. Dazwischen liegen 80 Lochreihen für die Klaviertasten. 2 Die Wiedergabe der auf diese geheimnisvolle Weise aufgenommenen Rollen erfolgt entweder über ein Reproduktionsklavier (ein von Welte mit dem patentierten Abspielapparat ausgestatteten Flügel oder Pianino3) oder über einen „Vorsetzer“ (ein Abspielapparat, der mittels Hebel Klaviertasten anschlagen konnte), wenn ein Klavier bereits vorhanden war. 4

1904 begann die Aufnahmetätigkeit. In der Folge engagierte man die bekanntesten Pianisten der damaligen Zeit. Insgesamt bot die Firma bis 1932 etwa 5.500 Titel an, darunter zahlreiche Opern- und Operettenpotpourris, Unterhaltungsstücke, Schlager, Märsche und Tanzmusik sowie zahlreiche „klassische“ Klavierliteratur wie Stücke von Beethoven oder Chopin. Im Repertoire der Welte-Rollen befinden sich beispielsweise Aufnahmen der Pianisten Reinecke, Paderewski, Busoni, Schnabel, Fischer, Horowitz oder Gieseking. 1928 erfolgten die letzten Aufnahmen klassischer Musik mit Serkin. Bedeutende Komponisten spielten eigene Werke ein, darunter Debussy, Saint-Saëns, Skrjabin, Reger, Grieg, Mahler, Richard Strauss und Gershwin. 1926 komponierten Hindemith und Toch anlässlich der Donaueschinger Musiktage Stücke für das „Welte-Mignon“ – sie waren so komplex, dass sie nicht mehr „von Hand“ gespielt werden konnten.

Heute stellen diese Rollen wichtige Dokumente der Interpretationsgeschichte der Klaviermusik dar. Bei einem perfekt eingestellten Reproduktionsklavier übertrifft ihre Wiedergabe jede Platteneinspielung, da der Klavierklang von einem „echten“ Instrument erzeugt wird. Die Wiedergabegeschwindigkeit lässt sich zwar regeln, sollte aber zur Übereinstimmung mit dem Original 145 cm/30 s betragen. Die Einstellung der Abspielsysteme ist nicht einfach. Es bedarf bestimmter Testrollen, um die Balance zwischen Piano und Forte, die Geschwindigkeit des Crescendos, die Repetitionsgeschwindigkeit usw. genau zu justieren. Dazu müssen unter Umständen sogar die Federn getauscht werden, die die Betoner-Bälge spannen. Dies betrifft vor allem die Vorsetzer, wenn sie an verschiedene Klaviere angepasst werden sollen.

Fußnoten:


1 Siehe dazu Freiburg/Br. (Hg.), Aus Freiburg in die Welt. 100 Jahre Welte-Mignon, Freiburg/Br. 2006, S. 74ff, und Das mechanische Musikinstrument, 18. Jg., Heft 61, Oktober 1994, S. 24.

2 Dies gilt für das System „Welte rot“ mit Rollen aus 328 mm breitem, rotem Papier.

3 Patent DE 162708 vom 21. 5. 1904.

4 Ein Heft des Journals Das mechanische Musikinstrument (Nr. 89, 30. Jg., April 2004) ist der Beschreibung des Systems „Welte Mignon“ gewidmet.

 
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